Dr. Matthias Peissner ist Institutsdirektor und leitet den Forschungsbereich Mensch-Technik-Interaktion am Fraunhofer IAO. Seine interdisziplinären Teams arbeiten an Lösungen, die ein effizientes Zusammenspiel von Mensch und intelligenter Technik ermöglichen. Schwerpunkte seiner Arbeit sind anpassungsfähige Systeme, zukünftige Arbeitsumgebungen und die Gestaltung positiver Nutzungserlebnisse. Er koordiniert das KI-Fortschrittszentrum »Lernende Systeme und kognitive Robotik«, das Teil des international renommierten Cyber Valley in Stuttgart/Tübingen ist. Als Experte für die menschengerechte Gestaltung von KI-Systemen engagiert er sich in der »Plattform Lernende Systeme« und der »Global Partnership on AI«, für die er die Arbeitsgruppe »Future of Work« leitet.
HÖLL: Wie denken Sie, dass Künstliche Intelligenz (KI) die Art und Weise, wie wir arbeiten, grundlegend verändern wird?
Peissner: Künstliche Intelligenz wird unsere Arbeit grundlegend und auf vielfältige Weise verändern - insbesondere die Generative KI.
Aktuelle Studien zeigen, dass fast alle Arbeitenden in fast allen Berufen auf die eine oder andere Weise mit KI zu tun haben werden. Bei nahezu jedem fünften Job kann die Hälfte aller Arbeitsaufgaben von KI entweder automatisiert oder unterstützt werden. Während es bislang v.a. um die Automatisierung von manuellen Routineaufgaben ging, steht jetzt durch die generative KI vor allem die Wissensarbeit im Fokus.
In Zukunft werden wir verschiedenste KI-Tools als permanente Helfer einsetzen– so selbstverständlich, wie wir heute Internetsuchmaschinen nutzen: Als wichtige Erkenntnisquelle bei komplexen Entscheidungen zum Beispiel in der medizinischen Diagnose, in der Produktgestaltung, in der Warenwirtschaft und im Ressourcenmanagement. Als Recherche-Assistent und Sparringpartner beim Erarbeiten und Ausformulieren von Positionen. Oder als ausführende Hand bei Grafik- und Programmierarbeiten. Wir werden viele Aufgaben an die KI delegieren, aber die Verantwortung für unser Arbeitsergebnis werden wir als Mensch behalten. Man könnte sagen, die Arbeit mit KI wird eine gewisse „Führungskompetenz“ erfordern, denn es wird darauf ankommen, die verschiedenen Werkzeuge zu kennen, sie angemessen zu organisieren und ihnen präzise Anweisungen zu geben.
HÖLL: Welche konkreten Herausforderungen sehen Sie für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Hinblick auf die Integration von KI am Arbeitsplatz, und wie können diese bewältigt werden?
Peissner: Die größte Herausforderung wird das Tempo sein, mit dem wir uns in Zukunft auf neue Technologien und Situationen einstellen müssen. Damit werden Weiterbildung und kontinuierliches Lernen noch mehr an Bedeutung gewinnen. Das ist aber nicht für alle Menschen so einfach umsetzbar. Und damit besteht ein gewisses Risiko, dass wir Teile unserer Gesellschaft zurücklassen und verlieren könnten. Wir müssen auf allen Ebenen eine gewisse Aufbruchstimmung erzeugen und unsere Veränderungsbereitschaft optimieren. Die Politik und die Unternehmen müssen dafür sorgen, dass alle Menschen in diesem Land die große aktuelle Transformation nicht als existenzielle Bedrohung wahrnehmen, sondern als Chance für eine persönliche Weiterentwicklung. Wir brauchen niederschwellige Angebote für Information und Sensibilisierung zur Zukunftsarbeit mit KI. Wir brauchen passgenaue Bildungsangebote, die dazu einladen und motivieren, Neues zu lernen. Und schließlich brauchen wir auch einen flexiblen Arbeitsmarkt, der zahlreiche Chancen bietet, das Neugelernte auch sinnvoll einzusetzen.
HÖLL: Welche Branchen und Berufe sind besonders von den Veränderungen durch KI betroffen?
Peissner: Wenn wir auf die generative KI schauen, sind mit großem Abstand die Arbeitsplätze in der Büroarbeit, der Verwaltung und der Wissensarbeit am stärksten betroffen. Und das ist auch keine Überraschung, wenn Sie bedenken, dass Systeme wie zum Beispiel ChatGPT besonders gut sind in Mathe, Recherchieren, Schreiben und Programmieren. Leider deckt sich das nicht mit den sogenannten Mangelberufen, in denen wir heute unter besonderem Fachkräftemangel leiden. Gerade die Handwerksberufe und die Berufe, die nahe am Menschen sind wie Pflege und Gesundheit oder Erziehung und Lehre, sind eher wenig von den KI-Potenzialen betroffen. Sicher kann die KI einen wertvollen Beitrag zur Bewältigung der Fachkräftekrise leisten. Aber es wird nicht damit getan sein, die fehlenden Mitarbeitenden durch KI zu ersetzen. So einfach ist es leider nicht. Wir brauchen kreative Ideen: Zum Beispiel wie wir Mangelberufe durch KI attraktiver machen können. Wie wir durch KI die Flexibilisierung der Arbeit und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf unterstützen können. Oder wie wir die Inklusion in der Arbeitswelt oder die Integration von ausländischen Fachkräften durch KI voranbringen können.
Eine weitere interessante Erkenntnis einer aktuellen Studie der International Labour Organisation ist, dass Frauen von den Automatisierungspotenzialen der generativen KI stärker betroffen sind -einfach aufgrund der Geschlechterverhältnisse in den verschiedenen Berufen. Die berufliche Gleichberechtigung haben wir immer noch nicht erreicht. Nun drohen die mühsamen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte sogar noch zu bröckeln. Hier steht uns eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe bevor.
HÖLL: Welche Rolle spielen ethische Überlegungen bei der Integration von KI am Arbeitsplatz, und welche Prinzipien sollten bei der Entwicklung und Nutzung von KI-Systemen beachtet werden?
Peissner: Wir sind gut beraten, wenn wir neben den wirtschaftlichen Überlegungen des KI-Einsatzes auch immer die Ethik im Blick haben. Also die Frage: Wie können wir eine für die Menschen wünschenswerte Arbeitswelt mit KI gestalten? Dabei stellen wir immer wieder fest, dass etalierte Handlungsmaximen und „Dogmen“ neu überdacht werden müssen. Vielen Betriebsräten gilt die Automatisierung von menschlicher Arbeit durch KI als eine rote Linie. Ich denke aber, dass wir angesichts des Fachkräftemangels und der demografischen Entwicklung die Produktivitätspotenziale der KI sehr konsequent und verantwortungsvoll ausschöpfen müssen. Ethisch fragwürdig wäre es eher, Menschen eine Arbeit machen zu lassen, die Maschinen heute schneller und besser erledigen können – insbesondere, wenn es sich um Tätigkeiten handelt, die eintönig oder mit Unfall- oder Gesundheitsrisiken verbunden sind. Menschen wollen keine Arbeitsbeschaffung oder Almosen. Natürlich wollen sie mit ihrer Arbeit ein gutes Auskommen sichern. Aber sie wollen auch einen wertvollen gesellschaftlichen Beitrag leisten. Auch das gehört zur Ethik der Arbeit.
Weitere wichtige ethische Fragestellungen betreffen das generelle Rollenverständnis zwischen Mensch und Maschine: Wer ist im Lead? Wer entscheidet? Dazu gehört auch die Transparenz von KI-Algorithmen, die Chancengleichheit und die Vermeidung von systematischen Verzerrungen. Und natürlich geht es auch um den Schutz von personenbezogenen Daten und um die Frage, wie wir in der Arbeitswelt persönliche Daten sicher und verantwortungsvoll nutzen können, damit auch die Arbeitenden von den positiven Potenzialen der KI profitieren können – zum Beispiel in Form von individualisierten Weiterbildungsangeboten. Und wenn wir den Blick über den eigenen Tellerrand hinweg wagen, müssen wir uns auch die Arbeitsbedingungen der sogenannten Click-Worker ansehen, die meistens im globalen Süden, meistens durch stupide Arbeit, meistens unter prekären Bedingungen dafür sorgen, dass die großen Machine-Learning-Modelle gut genug trainiert sind, um unsere Prozesse hier in den entwickelten Ländern produktiver zu machen. Die gerechte Verteilung der durch KI entstehenden Produktivitätsgewinne –innerhalb eines Unternehmens, in unserer Gesellschaft, aber auch global – das ist sicher eine der größten ethischen Herausforderungen.